Die Regularien für Piloten sehen Ruhezeiten vor, in denen wir uns von den Strapazen der vorangegangenen Schicht erholen und mit denen wir Ermüdung auf dem folgenden Flug verhindern. Ehrlich gesagt sind dazu die Hotels, in denen wir übernachten, nicht immer geeignet. Nachdem ich den ganzen Tag in einer engen Metallröhre mit stickiger Luft verbracht habe, ist die Aussicht, die Nacht in einer ähnlichen Umgebung zu verbringen, nicht sehr reizvoll. Wie das Flugzeug sind auch die Hotels oft laut: Straßenverkehr, Hotelangestellte, andere Gäste halten übermüdete Crews davon ab, den nötigen Schlaf zu bekommen. Erst kürzlich habe ich das “Freiluft-Airbnb” Hipcamp entdeckt, das Camping auf Privatgrundstücken, Bauernhöfen, Weingütern, öffentlichen Parks und mehr anbietet. Viele meiner Kollegen würden erschaudern vor der Vorstellung, ihr Layover im Zelt zu verbringen, doch ich erhole mich unterm Sternhimmel an der frischen Luft viel besser als ich es in unseren üblichen Crewhotels je würde.
Ein Angebot mit dem Namen “Garten am Meer”, nur eine Autostunde von San Francisco entfernt, ist in diesem Layover meine Alternative zum Crewhotel. “Hübscher privater Blumengarten” und “charmante Küstenstadt” sind genau nach meinem Geschmack und nahegelegene Staats- und Nationalparks versprechen Aktivitäten für tags. Ich habe einen Plan, um die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Ich eile zu Trader Joe’s, um Lebensmittel für die nächsten zwei Tage zu kaufen. Gefahrgutvorschriften verbieten es mir, Gas für einen Campingkocher im Flugzeug mitzuführen. Umweltbewusst möchte ich auch kein Gas kaufen und den Kanister kaum benutzt wegwerfen, also bleibe ich bei kalten Mahlzeiten: Brot, Salami, Käse, eine Auswahl an Obst und Snackkarotten mit Hummus und Guacamole zum Dippen. Ich packe noch ein Sixpack IPA ein, das ich schon länger probieren wollte, und laufe zurück zum Hotel. Dort fülle ich nur das Notwendigste in meinen Rucksack – Zelt, Isomatte, Schlafsack, Outdoorkleidung und die wichtigsten Toilettenartikel. Nur ein Buch fehlt als mein Begleiter. Ich habe vergessen, eins von zuhause mitzubringen, und in meinem Teil der Stadt gibt es keine Buchhandlungen mehr (danke, Amazon)!
Der Weg aus der Stadt heraus ist mühsam, ab dem Highway 101 läuft es aber gut. Auf dem Panoramic Highway winde ich mich an Muir Woods vorbei durch pittoreske, ins warme Licht der Abendsonne getauchte Waldlandschaften zum malerischen Stinson Beach. Ich möchte bei Tageslicht mein Zelt aufschlagen, also widerstehe ich der reizvollen Vorstellung, anzuhalten und durch den Ort zu bummeln. Ich fahre an der Stadtbücherei vorbei und sehe davor ein Regal mit Büchern, die scheinbar zum Verkauf angeboten werden. Ich bin zu schnell, um die Kurve zu kriegen, und will zunächst weiter eilen. Meine Neugier und das Verlangen nach einem guten Buch überzeugen mich dann aber doch, bei der nächsten Gelegenheit zu wenden. Der Zufall meint es gut mit mir und schenkt mir ein abgenutztes Exemplar von Cheryl Strayeds “Wild”, das ich schon länger auf Englisch suche.
Von Stinson Beach umrunde ich Bolinas Lagoon, ein Gezeitenästuarium, das Tausenden Vögeln eine Heimat bietet. Fünf Minuten später kündigt ein Schild bereits an, dass ich mich nun in der “sozial anerkannten, Natur-liebenden Stadt” Bolinas befinde. Ich fahre durch botanisch benannte Straßen wie Elm, Fern und Grove, in denen an jedem zweite Auto ein Surfbrett befestigt ist. Kleine Häuser, durch Wetter und Zeit verwittert, stehen auf großen Grundstücken, und sehen aus wie Wochenendhäuser, deren Bewohner sich dauerhaft darin niedergelassen haben. Meine Gastgeber begrüßen mich und zeigen mir die abgeschiedene Ecke ihres Grundstücks, in der ich mein Obdach für die nächsten zwei Nächte aufstellen kann. Nach einem sehr langen Tag spürt mein Körper die Zeitverschiebung (zuhause ist es vier Uhr morgens). Ich baue mein Zelt auf und genieße mein simples Abendessen. Mit wohliger Zufriedenheit ziehe ich mich in meinen Schlafsack zurück und schlafe den besten Schlaf seit Wochen.
Am nächsten Morgen erwache ich mit den ersten Sonnenstrahlen und erkunde meine unmittelbare Umgebung. Am Bolinas Beach bin ich fast allein. Die einzigen Seelen, die ich sehe, sind Surfer, die dem kalten Pazifikwasser trotzen, und ein paar Menschen, die mit ihren Hunden die morgendliche Runde gehen. Ich laufe durch die Straßen der Küstenstadt und nehme Eindrücke auf. Wenn es um Nostalgie geht, hänge ich von allen Sinnen am meisten am Geruch. Nur ein Hauch von Pinienharz in der Sonne oder die salzige Luft des Meeres rufen Tausend Bilder einer lange vergangenen Zeit auf. Zusammen mit dem allgegenwärtigen Meeresrauschen fühle ich mich wieder vollends wie das Kind, das vor so langer Zeit die Küstenlandschaften Neuenglands erkundete.
Bolinas ist ein besonderer Ort, nicht nur, weil er geologisch kein Teil Nordamerikas ist (wie Los Angeles liegt die Stadt auf der Pazifischen Platte, westlich des San Andreas Grabens). Hier sieht es aus, als sei die Zeit stehen geblieben. Wären nicht überall moderne Autos, würden mich die wunderlichen Galerien, Läden und Restaurants glauben lassen, dass ich in einer Zeit vor einem halben Jahrhundert gelandet wäre. Tatsächlich erfahre ich später, dass der Städtebau seit 1971 absichtlich unterbunden wird.
Der Nebel hält sich heute länger als üblich und mein Gastgeber empfiehlt mir, zum Bear Valley Parkplatz zu fahren, um einen der traumhaften Wanderwege des Point Reyes National Seashore zu gehen. Ich entscheide mich für einen der längeren Rundwege und steige den steilen Mt. Wittenberg Trail hinauf, durch eine faszinierende Baumvielfalt zu einer offenen Wiese. Der Umweg zum Gipfel des Mt. Wittenberg reizt mich, schlägt er doch nur mit einer Strecke von 600 m zu Buche. Aus irgendeinem Grund entscheide ich, den steilen Hang hinauf zu rennen, wahrscheinlich weil ich denke, es wäre an der Zeit, dass die ESA neue Astronauten auswählt und ich davor schwer an meiner Fitness arbeiten muss. Ich weiß es, weil ich es nicht weit schaffe, bevor ich wieder zum flotten Gehen zurückfalle.
Nach einer kurzen Verschnaufpause laufe ich weiter auf dem Sky Trail, wo sich Aussichten Richtung Küste mit dichtem Wald abwechselt. Ich nähere mich immer mehr dem Pazifik und erreiche nach 10 km einen Wegabschnitt mit freiem Blick auf das Wasser. Der Rückweg über den Bear Valley Trail ist im Vergleich zum anstrengenderen Weg zur Küste eher fade, das einzige Highlight ist der Bach, dem der Weg einige Zeit folgt. Falls du diesen Rundweg gehen möchtest und dich fit genug fühlst, den anspruchsvolleren Teil in der zweiten Hälfte der Wanderung anzugehen, empfehle ich im Uhrzeigersinn zu gehen, d.h. mit dem Bear Valley Trail zu beginnen und mit dem Mt. Wittenberg Trail zu enden (Gesamtdistanz 16.8 km).Ich beende den Tag am Stinson Beach, wo die Sonne langsam Richtung Horizont sinkt, bevor ich zum Zelt zurück kehre und eine weitere Nacht fernab der Strapazen des Stadtlebens verbringe. Bevor ich Bolinas endgültig verlasse, halte ich noch mal in der Ortsmitte, um am Coffee Kiosk des Coast Café noch eines der fabelhaften Chocolate Croissants zu essen, in die ich mich gestern verliebt habe (der Chai Latte ist auch fantastisch). Ich unterhalte mich mit einigen Einheimischen, von denen mich einer in seine nahe gelegene Galerie einlädt. Es stellt sich heraus, dass Keith ein spektakulär talentierter, auf Tiere spezialisierter Künstler ist, der neben anderen eindrucksvollen Erfolgen das ikonische “Birds of the Sierra Nevada” illustriert hat.
Ich kehre regeneriert nach San Francisco zurück, ja fast wie von einer Krankheit erholt. Die Natur hat diese Wirkung, gelegentlich auch das Alleinsein. Mehr als je zuvor habe ich meine Ruhezeit genutzt, um wirklich zur Ruhe zu kommen. Ich bin bereit, nach Hause zu fliegen, doch ein Teil meines Herzens wird ewig in Bolinas bleiben.